Lichtfänger
De vera et ficta magia - Cautio criminalis - Wehmütige Klage

Leseprobe

Langsam schob sich der riesige Rumpf dem tintenschwarzen Himmel entgegen, schien dann für einen Moment unschlüssig zitternd zu verharren, um sich dann wie wild entschlossen vorwärts in die dunkle, brodelnde Tiefe zu stürzen. Gischtende Schaumkronen tanzten über die Wellen, ein schwerer Wind kam von Osten her, riss den dunklen Qualm förmlich aus den Schloten und blies ihn in die diesige Düsternis. Vom Heck her mischte sich der anschwellende und zunehmend höher werdende Ton der Schiffsschraube, die sich hilflos hoch über dem Wasser leer in der Luft drehte. Mit einem Ächzen, das beinahe wie ein gequältes Aufstöhnen klang, jagte der eiserne Leib schlingernd hinab in die tosende Schwärze auf den Fuß der nächsten gewaltigen Mauer zu, blieb für einen Augenblick wie von einer riesigen Faust gepackt stehen, als sich der Bug in den turmhohen Wasserberg bohrte, während die herabstürzenden Massen das Schiff zu verschlingen schienen.

George Lincoln Burr stand auf dem Vorderdeck, die Hände an der Reling festgekrallt, so dass sich die Knöchel als weiße Flecken abzeichneten. Wie eine undurchdringliche Decke rauschten die Wasser hoch über ihn hinweg und ein kalter, feiner Sprühregen rieselte auf den glitschigen, genoppten Stahlboden. Zuerst langsam, dann zunehmend schneller werdend trug die Woge das Schiff wieder dem dunklen Himmel entgegen.

Burr hatte es schon längst aufgegeben, sich zu beherrschen und Etikette bewahren zu wollen. Stampfend und fauchend trieben die Dampfmaschinen hinauf dem nächsten Gipfel zu, eine ehemals vornehme Dame neben ihm, die sich außer ihm offensichtlich als einzige an Deck gewagt hatte und deren Kleid auf der Vorderseite mit gelbschimmernden Spuren verschmiert war, erleichterte sich ungeniert und Burr sah keine Veranlassung, es ihr nicht gleich zu tun.

Vor dem Ablegen in New York hatte der Kapitän an alle Passagiere einen Vorrat an getrockneter grauer Ambra verteilen lassen, und ihnen empfohlen, das Walsekret, das schwimmend auf dem Meer zu finden und in kaltem Wasser unlöslich war, vorbeugend morgens im heißen Tee aufzulösen und auch tagsüber genügend davon zu trinken.

Auf die zweifelnde Frage, ob das wirklich etwas nütze, hatte der Steward lächelnd geantwortet, der Wal sei schließlich auch ein Säugetier und die Gegenfrage gestellt, ob sie denn schon einmal einen seekranken Walfisch gesehen hätten. Das Zeug sehe zwar nicht sonderlich appetitlich aus, schmecke aber in Wirklichkeit nicht einmal so übel.

***

Peter Binsfeld rückte mit einem scharrenden Geräusch den schweren Sessel nach hinten, als er aufstand um ans Fenster zu treten. Leicht und behutsam schien sich die Dämmerung über die Stadt zu legen, in den Häusern wurden die ersten Lichter angezündet und Trier machte einen in sich ruhenden, gelassenen und friedlichen Eindruck. Aber der Schein war trügerisch. Nicht nur in den Straßen und Gassen, sondern auch draußen auf dem Land machte sich mit zunehmender Dunkelheit die Angst breit und kroch wie lähmendes Gift in die Seelen der Menschen. Wie viele würden heute Nacht wieder auf Ziegenböcken, Besen oder goldenen Kutschen durch die Lüfte fliegen um sich auf den Hexensabbaten zu treffen und wüste Orgien zu feiern? Wann würde wieder das nächste Unwetter über das Land hereinbrechen, wann die nächste Pestwelle die Menschen wie Schmeißfliegen hinweg raffen? Seit anfangs der achtziger Jahre war es nun fast ununterbrochen so. Die Menschen hungerten und darbten, die Böden waren nass und lehmig, die Ernten verfaulten auf den Feldern, die Weinberge trugen nur winzige Trauben, die aber nicht ausreiften und die Kühe, aber nicht nur diese, sondern selbst die genügsamsten Ziegen gaben kaum noch Milch. Die Menschen wandten sich unter Schmerzen, ihre Körper waren mit braunen, entsetzlich stinkenden Pusteln überzogen und wer das überlebte, war für sein ganzes weiteres Leben gezeichnet.
Der Ruf der Bestrafung dieser bösen Weiber, die zweifelsohne für das ganze Unglück verantwortlich waren, wurde immer lauter, aber Rat und Hochgericht schienen immer noch zu zögern, während im Umland eine dieser Unholdinnen nach der anderen hingerichtet wurde. Erst als ein paar Frauen in Trier Zuflucht gesucht, aber unverzüglich mit Ausnahme der Ehefrau des Saarburger Schultheißen aus der Stadt getrieben wurden, aber diese dann kein Entlastungsschreiben für die angelasteten Zaubereien beibringen konnte und wieder in ihren Heimatort überstellt und dort ihrer Bestrafung zugeführt wurde, schienen endlich auch die Trierer aufzuwachen.

***

Hermann Löher saß am Richtertisch, den Kopf in die linke Hand gestützt, scheinbar gelangweilt. Gelegentlich warf er durch die Finger einen Blick hinüber zum Amtmann und zum Schreiber Heimbach, dessen ursprüngliche Arbeit jetzt der Geck Augustin erledigte. Sein Blick fiel auf Heimbachs Rechte, dürr und braun war sie und die Finger standen ab wie die Triebe einer vertrockneten Wurzel.
„Gott hat dich gestraft“, dachte er, „dafür, dass du die arme Magd des Lirtz ins Gerücht und damit die Prozesse hier in Gang gebracht hast!“
Er ertappte den Amtmann dabei, wie dieser zu ihm herüber sah. In seinen Augen war etwas Abwartendes, Lauerndes. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Es war der gleiche Ausdruck, den der Bewell vor ein paar Wochen im Gasthaus hatte und den er damals nicht zu deuten wusste. Ob der Bewell damit etwas zu tun hatte? Er verwarf den Gedanken wieder. Nein, den brauchten sie nur für die Urteile. Aber vielleicht hatte der Bewell in einem seiner lichten Momente etwas voraus geahnt. Wieder fing er durch seine Finger einen Blick auf. Kein Zweifel, der Schall beobachtete ihn und die Art wie er es tat sagte ihm dass der Amtmann da mehr wusste, wenn er nicht gar selbst dahinter steckte. Der Schall von Bell war der Schlüssel, der die Türe zur Freiheit offen hielt oder die Zelle hinter ihm verschloss. Wie aber bekam er ihn dazu, den Schüssel nicht umzudrehen? Geld. Das war klar. Das Herz eines Dietrich Schall von Bell war nur mit dem Umweg über den Geldbeutel zu erreichen. Bestechung! Aber wie machte man so etwas? Er konnte doch nicht einfach hingehen und zu ihm sagen: Herr Amtmann, ich möchte Euch bestechen!
Von draußen kroch inzwischen die Dämmerung in den Saal und von der Kirche herüber schlug die Glocke fünf Uhr.
„Willst du hier übernachten?“, stieß Richard Gertzen Hermann Löher an.
„Wieso? Was ist?“, fragte der überrascht.
„Für heute ist Ende. Sie machen morgen weiter!“
Löher warf einen Blick hinüber zum Schall, der sich mit von der Stegen unterhielt, verließ dann den Saal um den Abtritt aufzusuchen obwohl er eigentlich gar nicht musste, wartete dort solange, bis die massige Gestalt des Amtmannes im Gang erschien. Hermann Löhers Herz pochte hinauf bis in den Hals. Jetzt galt es – alles oder nichts!
„Ah, der Herr Amtmann!“, tat er unbefangen. Er sah es zwar nicht in der Dämmerung, aber er spürte es, wie ihn der Schall von Bell schräg von der Seite her ansah.
„Ach, der Herr Löher!“
Seine Stimme klang unangenehm überrascht.
„Gut, dass ich euch hier treffe!“, hörte Löher sich selbst sagen, „ich habe da ein kleines Problem, über das ich gerne mit euch sprechen würde!“
„Ein kleines?“, lachte der Schall. „Jetzt noch vielleicht. Ich würde eher sagen, es wächst sich aus. In ein paar Tagen tratscht schon die ganze Stadt. Ich an euerer Stelle würde zusehen, dass die Gerüchte möglichst bald verstummen!“
„Das möchte ich ja! Aber wie?“
Der Amtmann blieb stehen und schien angestrengt zu überlegen.
„Phhh“, schnaufte er dann, „Vielleicht könnte ich euch da helfen“, kam es nun gönnerhaft, „allerdings...“
Er machte eine Pause.
Löher verstand sofort.
„Selbstverständlich. Natürlich weiß ich, dass das auch Geld kostet. Daran soll es nicht scheitern!“
„Nein, nein!“, wehrte der Schall ab, „Ich möchte mich da nicht bereichern! Um Gottes willen!“
Er tat geradezu entrüstet.
„Na ja, vielleicht eine Kleinigkeit für meine Frau!“, sagte er dann nach einer Weile, „Aber wirklich nur eine Kleinigkeit!“
Löher verstand wieder. Eine Kleinigkeit hieß, dass sie nicht besonders groß sein musste, dafür aber umso wertvoller.
„Das geht in Ordnung!“, antwortete er erleichtert und setzte noch hinzu: „Ich möchte mich für euere gütige Hilfe bedanken!“
Der letzte Satz fiel ihm außerordentlich schwer.